Dave's dream of cycling the world coming true... This time, he didn't only drag along a trailer with his Sitar - but also me!

Zwischenbilanz

... in La Paz, Baja California, kurz vor Weihnachten 2013:


Uns geht's gut. 5600 Kilometer und knappe fünf Monate liegen bereits hinter uns, eine gute Mischung aus aufregenden und beruhigenden, interessanten und langweiligen, romantischen und widerlichen, wunderbaren und nervigen, wichtigen und sinnlosen, krassen und normalen, furchteinflößenden und sicheren, anstrengenden und entspannten, geselligen und einsamen, behaglichen und unbequemen, inspirierenden und dumpfen, lustigen und traurigen Momenten.

Besonders seitdem wir die wohl am stärksten (wenn auch nur einseitig) bewachte Grenze der Welt überquert haben, empfinden wir eine Leichtigkeit und eine Freiheit wie früher am ersten Tag der Sommerferien: Die Sonne scheint, man hat null Verpflichtungen und zig Möglichkeiten. Meistens haben wir wenig bis keine Ahnung, was der Tag bringen und wo er enden wird. Hauptsache, wir wissen ungefähr, wie weit es bis zur nächsten Einkaufsmöglichkeit / Wasserstation ist, alles Andere ergibt sich. Mit anderen Leuten gemeinsam unterwegs zu sein macht unsere Reise unterhaltsamer und ideenreicher, führt auf der anderen Seite jedoch zu vielen Diskussionen. Wenn Dave und ich zu zweit sind, erstaunt es uns oft selbst, wie einig wir uns sind.

Nachdem wir vier Jahre lang in einem großen Haus mit Garten gewohnt haben und tagsüber durch die Arbeit getrennt waren, mussten wir uns erst daran gewöhnen, rund um die Uhr zusammen zu sein - und das auf begrenztem Raum. Aber das klappt bis auf wenige kleinere Reibereien wunderbar. Tägliche Routineaufgaben verlaufen überwiegend wortlos, dafür unterhalten wir uns am Abend oder während langweiliger Streckenabschnitte stundenlang über Gott und die Welt, immer neu inspiriert von aktuellen Geschehnissen. Dadurch entdecken wir ständig neue Seiten an uns selbst und am Anderen, und bisher sind es natürlich lauter gute :-) Wenn wir einen schlechten Tag haben, dann meistens beide und aus demselben Grund.
"Mund halten, Abstand nehmen, weiterfahren!"
ist unsere beste Strategie um schnell wieder aus dem Loch rauszukommen. 90 % der Zeit sind wir aber gut drauf und froh, dass wir all diese Erlebnisse miteinander teilen können.

Das Radfahren an sich ist (für mich Gott sei Dank) eher zur Nebensache geworden. Zwar verbringen wir an Radtagen um die fünf Stunden im Sattel und verheizen durch die Stramplerei so viel Energie, dass für Erkundungsgänge, Umwege oder lange Abende nichts mehr übrig bleibt, doch solange unsere Ausrüstung gut funktioniert, denken wir nicht weiter darüber nach und haben somit den Kopf frei für alles Andere.
Und was es da nicht alles zum Denken gibt! Zunächst sind da natürlich die organisatorischen Dinge: Für wie viele Tage brauchen wir Essen und Wasser? Wo gibt's eine Wäscherei? Müssen wir Geld abheben oder reicht es noch bis zur nächsten größeren Stadt? Was wollten wir gleich wieder im Internet erledigen? Faszinierend: Diese "Probleme" beschränken sich auf unsere kurzen Aufenthalte in Städten. Sobald wir dann wieder draußen sind im Wald, in der Wüste oder am Meer, schalten wir völlig ab und beschäftigen uns mit dem, was direkt um uns ist. Wir nehmen jeden Fahrbahnbelag wahr, jeden Wind und jeden Steigungsgrad, jedes Auto, jeden Käfer und jeden Geruch (ja, da würden wir manchmal gern drauf verzichten). Wir können freundliches und unfreundliches Hupen differenzieren und Meilen blitzschnell in Kilometer umrechnen, wir hören jeden Vogel und jedes Autoradio, jedes Hundegebell und jedes Kindergeschrei, den Lärm der Straße, das Rauschen des Meeres und die Stille der Wüste. Wir merken sofort, wenn sich hinter einem Berg mal wieder die Landschaft verändert; plötzlich sind da neue Blumen- oder Kaktusarten, andere Farben und Formen, andere Gerüche und eine andere Temperatur. Wir merken aber auch, wenn sich die Landschaft seit über hundert Kilometern nicht geändert hat.


Und schließlich nehmen wir uns selbst neu wahr: Wir erleben Hunger, Durst und Müdigkeit in einer ungeahnten Intensität und Plötzlichkeit, die uns oft dazu zwingt, an den ungemütlichsten Stellen Pause zu machen. Zum Frühstück genehmigen wir uns gute 1200 Kalorien, zum Mittagessen und zum Abendessen jeweils um die 1000 Kalorien, und die Süßigkeiten zwischendurch läppern sich auch zu etwa 1000 Kalorien pro Tag zusammen. Pro Person! Trotz der Fresserei haben wir beide deutlich abgespeckt und sehen wieder gern an uns selbst herunter (mangels Spiegel). Diesem erhöhten Stoffwechsel ist es wohl auch zuzuschreiben, dass unsere Haare und Nägel schneller wachsen als gewohnt und dass meine relativ greislige Wunde am Unterschenkel (siehe Post vom 20. Oktober) problemlos von selbst zugeheilt ist. Überhaupt ist es der Hammer zu beobachten, zu welchen Leistungen man seinen Durchschnittskörper trainieren kann. Nicht nur in sportlicher Hinsicht, sondern es überraschen uns auch unsere Immun- und Verdauungssysteme laufend positiv. Unsere Schlaf- und Wachzeiten haben sich langsam aber sicher dem natürlichen Tageslichtrhythmus angepasst. Im Zelt ist das toll, man wird praktischerweise immer schon vor Sonnenaufgang wach, dafür ist abends um spätestens halb acht Uhr Schicht im Schacht. Wenn wir dagegen in Hotels übernachten und die Vorhänge zu sind (mit den Fahrrädern nehmen wir immer ein Zimmer im Erdgeschoss), nutzen wir abends das elektrische Licht und pennen dafür bis zehn Uhr vormittags. Die größten Veränderungen an uns selbst gehen allerdings wesentlich langsamer und stiller voran: Täglich üben wir uns in Geduld, Vertrauen und Spanisch. Mal sehen, wie es damit in einem Jahr aussieht...

Unzählige Male wurden wir sowohl von Bekannten als auch von Fremden gefragt, warum wir diese Reise machen, und ob wir denn verrückt seien. Ich muss sagen, dass ich nach wie vor kein großer Fahrradfanatiker bin. Es gibt Momente, in denen ich mein Gefährt am liebsten mit Schwung die Böschung runterschubsen würde, weil mich das ganze Unterfangen gerade echt ankotzt. Auch Dave hat manchmal keine Lust weiterzufahren, aber glücklicherweise sind diese Durchhänger selten und kurz. Denn wenn wir darüber nachdenken, was uns diese Art des Reisens alles ermöglicht, was wir alles sehen und erleben dürfen, wie vielen Menschen wir begegnen, wo wir überall hinkommen und wie intensiv wir viele Kleinigkeiten wahrnehmen, dann fragen wir uns eher, warum nicht jeder einmal mit dem Fahrrad in der Welt rumfährt. Es klingt verrückt, aber es ist echt gar nicht so schwer.
Frohe Weihnachten allerseits!

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